Ibrahim Arslan — Das Erinnern selbst erkämpfen

Ibra­him Ars­lan über Igno­ranz und den feh­len­den Mut, Opfer rech­ter Gewalt nach ihrer Geschichte zu fra­gen

 

Ibra­him Ars­lan hat den ras­sis­ti­schen Anschlag in Mölln in der Nacht zum 23. Novem­ber 1992 als Sie­ben­jäh­ri­ger schwer ver­letzt über­lebt. Seine Schwes­ter Yeliz (10), seine Groß­mut­ter Bahide(51) und seine Cou­sine Ayse Yil­maz (14) star­ben.

 

Du bist häu­fig in Schu­len und hältst Vor­träge. Hast du das, als wir uns vor fünf Jah­ren ken­nen­ge­lernt haben, auch schon gemacht?

Ibra­him Ars­lan: Nicht in der Form. Die Schul­ver­an­stal­tun­gen mache ich jetzt bald zwei Jahre. Nach­dem der Film erschie­nen ist, habe ich ver­sucht, eigen­in­itia­tiv an Schu­len zu gehen und gesagt: Ich habe einen Flim, er heißt »Nach dem Brand«, ich bin Zeit­zeuge, ich habe den Anschlag über­lebt. Kann ich das bei Ihnen machen? Aber: Kein Leh­rer und keine Leh­re­rin wollte das mit mir machen. Sie woll­ten wis­sen: Wer steckt denn hin­ter dir?

Du warst also nicht seriös genug?

Genau. Also habe ich im Inter­net recher­chiert. Die Ama­deu Anto­nio Stif­tung hatte uns schon in eini­gen Pro­jek­ten unter­stützt, die wollte ich nicht noch mehr belas­ten. Ich habe dann den Ver­ein Gegen Ver­ges­sen, für Demo­kra­tie gefun­den. Ich bin da wie zu einem Bewer­bungs­ge­spräch hin­ge­gan­gen, mit Anzug und Kra­watte. Die wuss­ten erst­mal nicht, was sie mit mir machen sol­len. Ich habe ihnen die kom­plette Geschichte erzählt, was damals pas­siert ist und dass ich einen Film habe, mit dem ich sehr gerne in die Schu­len gehen möchte, dass ich es als Betrof­fe­ner nicht mehr mit anse­hen kann, wenn an Schu­len immer nur die Täter­per­spek­tive gezeigt wird. Wahr­schein­lich ist das ganz gut ange­kom­men – mitt­ler­weile war ich schon an über 50 Schu­len und habe meine Geschichte über 10.000 Schü­lern erzählt.

Kommt das denn bei den Schü­le­rin­nen und Schü­lern ganz gut an, wenn du da bist und mit ihnen sprichst?

Ich bekomme immer sehr posi­ti­ves Feed­back. Was mich aber erschüt­tert, ist dass die Schü­ler immer wie­der sagen: Wir haben uns nie mit den Opfern beschäf­tigt. Wir haben uns nie die Opfer­per­spek­tive ange­schaut. Wir ken­nen nur die Täter und ihre Geschich­ten. Die­ses Pro­jekt ist ja sozu­sa­gen die reine Opfer­per­spek­tive, in den Schul­ver­an­stal­tun­gen rede ich kaum über die Täter. Natür­lich kom­men meis­tens Fra­gen wie: Ist es für Sie gerecht, dass die Täter eine Strafe von 15 Jah­ren bekom­men haben? Das ver­su­che ich dann so schnell wie mög­lich zu beant­wor­ten, um dann wie­der zur Opfer­per­spek­tive zurück­zu­keh­ren. Ich finde es wich­tig, viel über die Opfer zu spre­chen, weil ich will, dass die Men­schen sich mit den Betrof­fe­nen iden­ti­fi­zie­ren und auch sym­pa­thi­sie­ren.

Hat deine Schul­tä­tig­keit Nach­ah­mer gefun­den ?

Ja, es gibt einige Betrof­fene, die nie gespro­chen haben, die jetzt Filme machen wol­len. Ich war mit einem Betrof­fe­nen der 1980er Jahre – dem Sohn von Rama­zan Avci, der 1985 in Ham­burg von vier Neo­na­zis ennor­det wurde – in einer Schule, und wir haben vor 600 Schü­lern gespro­chen. Das war sein ers­tes Schul­ge­spräch, und er hat gesagt, er würde gerne wei­ten­na­e­hen, weil er merkt, dass er dadurch einen gan­zen Bezug zu sei­nem Vater bekommt.

Das Spre­chen ist ja durch­aus auch für die Betrof­fe­nen wich­tig, um das Erlebte zu ver­ar­bei­ten.

Ja, einige Betrof­fene ver­lie­ren ihre Sym­ptome, wäh­rend sie über die Gescheh­nisse spre­chen. Ich habe seit dem Anschlag einen chro­ni­schen Hus­ten. Aber wenn ich in Schu­len über die Gescheh­nisse spre­che, huste ich gar nicht. Die Schü­ler wun­dern sich dann: In dem Film hus­tet er die ganze Zeit und jetzt nicht. Macht er Show? Ich sage dann: Habt ihr gemerkt? Ich hab nicht ein­mal gehus­tet. Das habe ich nicht abge­schal­tet, das habt ihr abge­schal­tet mit eurer Soli­da­ri­tät. Das ist unsere Medi­zin.

Du hast vor fünf Jah­ren in einem Inter­view in ak gesagt, dass Opfer keine Sta­tis­ten sein sol­len, weil sie die Haupt­zeu­gen­des Gesche­he­nen sind. Hat sich in die­ser Hin­sicht etwas getan?

Mein Satz »Opfer sind keine Sta­tis­ten, son­dern die Haupt­zeu­gen des Gesche­he­nen« hat immer noch Bestand, das ist klar. Aber es hat sich extrem viel ent­wi­ckelt in den letz­ten fünf Jah­ren. Ich bin in meh­re­ren Städ­ten gewe­sen und habe ver­sucht, Betrof­fene zu fin­den. Ich habe ver­sucht, diese Men­schen zu moti­vie­ren, etwas gegen Ras­sis­mus zu tun, indem sie ihre Per­spek­tive erzäh­len. Denn die Betrof­fe­nen haben ein gro­ßes Bedürf­nis, ihre Geschichte zu erzäh­len. Das kann man nur erfah­ren, wenn man den Mut fin­det zu fra­gen, ein­fach nur mal zu fra­gen, dann wird man ganz viele Ant­wor­ten bekom­men. Wir haben im Mai die­ses Jah­res ein Tri­bu­nal in Köln gemacht mit über 3.000 Men­schen. Dort waren nicht nur Betrof­fene vom NSU, son­dern die Betrof­fe­nen von rech­ter Gewalt in Deutsch­land. Mitt­ler­weile ist es so, dass ganz viele Betrof­fene mit die­sem Satz »Wir sind keine Sta­tis­ten, son­dern die Haupt­zeu­gen des Gesche­he­nen« arbei­ten und an die Öffent­lich­keit gehen. Das war mein größ­ter Wunsch.

Wann ist diese Ver­net­zung denn ent­stan­den?

Als sich der NSU selbst ent­tarnt hat – also vor genau sechs Jah­ren – habe ich gedacht: Die 1990er wie­der­ho­len sich. Ich dachte, es ändert sich nichts in der Gesell­schaft, obwohl wir jah­re­lang ver­su­chen, etwas gegen Ras­sis­mus zu tun. Ich habe dann einen Brief
geschrie­ben und ihn an alle Betrof­fe­nen von rech­ter Gewalt geschickt, expli­zit an die NSU-Betrof­fe­nen.

Was war das für ein Brief?

Sinn­ge­mäß stand drin, dass wir als Opfer rech­ter Gewalt der 1990er Jahre viel Erfah­rung haben mit Opfer­ent­schä­di­gun­gen und selbst erkämpf­ten Gedenk Ver­an­stal­tun­gen und sol­chen Din­gen und dass wir die­ses Wis­sen gerne ver­mit­teln möch­ten. Bei dem Ber­likte Fes­ti­val in Köln – also drei Jahre nach der Ent­tar­nung – habe ich durch Anwälte erfah­ren, dass die meis­ten mei­nen Brief nicht bekom­men haben. Ich glaube, ein ein­zi­ger Betrof­fe­ner hat mei­nen Brief bekom­men.

Und was war mit den ande­ren?

Ich weiß es nicht. Sie haben gesagt, wir müs­sen uns auf den Pro­zess kon-
zen­trie­ren, da steht alles andere erst­mal hin­ten an. Ich habe gesagt, das könnt ihr nicht machen. Wenn man zum Bei­spiel eine Opfer­ent­schä­di­gung bean­tragt, dann dau­ert das Jahre. Und wenn man das spä­ter bean­tragt, dann dau­ert es noch län­ger. Ich habe das ja am eige­nen Leibe erfah­ren: Elf Jahre hat es bei uns gedau­ert. Das wollte ich ein­fach ver­mei­den. Das sind eigent­lich banale Sachen, die sei­tens der Poli­tik selbst­ver­ständ­lich sein müss­ten: schnelle unbü­ro­kra­ti­sche Hilfe für die Betrof­fe­nen.

Wie haben die Betrof­fe­nen reagiert, als du sie ange­spro­chen hast?

Naja, erst­mal dach­ten die, ich bin Jour­na­list oder so. Dann habe ich gesagt: Nein, ich bin Betrof­fe­ner von Ras­sis­mus. Dann haben sie mit­ein­an­der geflüs­tert – wer ist das über­haupt? Heute kämpfe ich mit eini­gen von ihnen zusam­men, mit eini­gen bin ich auch auf Gedenk Ver­an­stal­tun­gen und bei Podi­ums­dis­kus­sio­nen – und das, obwohl diese Men­schen nie spre­chen woll­ten.

Aber es ist ja nicht für alle so ein­fach mög­lich, sich auf ein Podium zu set­zen und die eigene Geschichte zu erzäh­len. Da gibt es doch große Unter­schiede, oder?

Auf alle Fälle. Ich habe sehr posi­tive Sachen erlebt, aber auch extrem nega­tive. Auch sol­che, bei denen man denkt: Das muss eigent­lich eine Gruppe von links­ori­en­tier­ten Men-
schen in den Griff bekom­men. Auch dort habe ich ein­ge­grif­fen und gesagt, das geht nicht so, das ist falsch. Ich war zum Bei­spiel bei einer Gedenk­ver­an­stal­tung von der betrof­fe­nen Fami­lie. Die Fami­lie wurde ein­ge­la­den als Gast zu ihrer eige­nen Dis­kus­si­ons­runde, und sie saßen in Jacken im Publi­kum. Ich war als Podi­ums­gast ein­ge­la­den. Ich guck ins Publi­kum und frage: Wer ist denn hier die Fami­lie? Dann wurde sie mir gezeigt: Das dort sind die bei­den. Ich bin zu ihnen hin­ge­gan­gen, habe mich zu ihnen gesetzt und gesagt: Das kann doch nicht ange­hen, dass Sie hier mit Jacken sit­zen. Sie: Ja, warum? Ich dann: Ihr seid hier die Gast­ge­ber – nicht die Gäste. Und sie haben gesagt: Wie? Wir sind doch als Gäste ein­ge­la­den wor­den. Wir gucken hier zu, was ihr redet. Ich habe dann gesagt: Nein, wir sind hier wegen euch, nicht ihr wegen uns. Und die Mut­ter hat gesagt: Okay, dann zieh ich meine Jacke aus. Und sie hat ihre Jacke aus­ge­zo­gen. Dann habe ich gesagt: Das reicht mir lei­der nicht, ich möchte gerne, dass du mit auf das Podium kommst – wenn du es möch­test. Sie meinte: Natür­lich möchte ich das. Und schon war sie auf der Bühne. So ein­fach ist das!

Das hat ja vor allem etwas mit Bewusst­sein zu tun. Tat­säch­lich kommt es ja häu­fi­ger vor – nicht nur bei Leu­ten, bei denen man es von vorn­her­ein erwar­tet, irgend­wel­che hohen Poli­ti­ker, son­dern auch bei Lin­ken. Obwohl ich den Ein­druck habe, dass sich das Bewusst­sein schon ein biss­chen ver­än­dert hat.

Ja, weil wir die ganze Zeit schreien. Weil wir, die Betrof­fe­nen, darum kämp­fen. Das meine ich: Wir krie­gen das nur hin, wenn wir die Betrof­fe­nen mit ein­be­zie­hen. Wie du gerade gesagt hast: Von Insti­tu­tio­nen brau­chen wir nicht viel erwar­ten. Ich bin schon bei sol­chen Gedenk Ver­an­stal­tun­gen gewe­sen, da wur­den Schwei­ne­häpp­chen ver­teilt, obwohl das eine mus­li­mi­sche Gedenk Ver­an­stal­tung war. Bei der Fami­lie Tas­köprü zum Bei­spiel im Ham­bur­ger Rat­haus. Ich dachte, ich fall vom Pferd. Wer soll denn diese Häpp­chen essen? Wen habt ihr hier­ein­ge­la­den? Wer sind die Gäste? Wer sind die Gast­ge­ber? Das hat mich ein biss­chen auf­ge­regt.

Gibt es nicht auch Men­schen, die über ihre Erleb­nisse nicht reden wol­len?

Meis­tens fragt diese Men­schen kei­ner, des­we­gen denkt man, dass sie nicht wol­len. Ich gehe immer auf die Betrof­fe­nen zu und frag sie ein­fach. Ich habe einen ganz engen Kon­takt zu dem Bru­der von Süley­man Tas­köprü, der ja auch vom NSU ermor­det wurde. Wir möch­ten ein ganz gro­ßes Pro­jekt nächs­tes Jahr in Ham­burg machen – obwohl die Fami­lie bis­her keine Gedenk Ver­an­stal­tung wollte.

Und mitt­ler­weile will die Fami­lie das?

Einige von der Fami­lie wol­len das.

Aber es gibt Dis­kus­sio­nen?

Ja, natür­lich! In unse­rer Fami­lie gibt es auch Dis­kus­sio­nen. Es ist ja nicht immer alles total han­no­nisch bei den Fami­lien. In einer Fami­lie gibt es meis­tens einen, der extrem aktiv ist. Dann gibt es einige, die auch aktiv sind, aber eher im Hin­ter­grund, die Briefe schrei­ben und sowas. Und dann gibt es einige, die gerne damit abschlie­ßen wol­len, weil sie ein­fach die­ses Trauma nicht immer wie­der­ho­len möch­ten. Auch das muss man respek­tie­ren. Dann gibt es einige, die sagen: Nein, ich möchte mich gerne an die insti­tu­tio­nel­len Stel­len wen­den. Jedem ist sein Geden­ken selbst über­las­sen. Aber wenn es Betrof­fene gibt, die sagen: Wir wis­sen nicht, dass für uns diese Mög­lich­keit besteht, dann werd ich sauer. Denn dann gab es kei­nen, der sie infor­miert hat. Und dann komm ich wie­der ins Spiel oder meine Freunde und auch soli­da­ri­sche Men­schen, die ich dann auf­for­dere: Ihr müsst mit die­sem Men­schen reden. Er möchte spre­chen. Das ist wich­tig für die Wert­schät­zung eines Betrof­fe­nen, weil ihm diese Wert­schät­zung durch die Poli­tik, durch die­ses Land, durch die Nazis genom­men wor­den ist.

Was sind denn deine Pläne für die nächs­ten fünf Jahre?

Wir haben natür­lich sehr viele Pläne, sehr schöne und posi­tive – aber wahr­schein­lich auch ein biss­chen nega­tive Pläne in den Augen von Insti­tu­tio­nen und Poli­ti­kern. Wir möch­ten gerne mit unse­rer Ver­net­zung vor­an­schrei­ten. Ein Pro­jekt von mir ist, ein Buch zu schrei­ben. Außer­dem wol­len wir ein Foto­pro­jekt star­ten, bei dem wir Por­träts von Betrof­fe­nen machen und die Lücke des Men­schen zei­gen, die die­ser Betrof­fene ver­lo­ren hat. Aber mein größ­tes Pro­jekt ist eine Opfer­be­ra­tungs­stelle, gelei­tet von Betrof­fe­nen. Es ist viel­leicht unrea­lis­tisch, aber ich wende es trotz­dem über­all for­dern. Das soll ein insti­tu­tio­nel­les Pro­jekt wer­den, das von Poli­ti­kern unter­stützt wer­den muss. Wenn es klappt, wäre ich extrem stolz, auch dar­auf, dass expli­zit Betrof­fene diese Idee hat­ten. Und es ist ein Zei­chen dafür, dass die Poli­tik sehr wenig gemacht hat, um den Betrof­fe­nen eine Stimme zu geben. Ein Zei­chen dafür, dass sich die Betrof­fe­nen das selbst erkämpft haben. Das ist genau das, was wir immer wie­der sagen: Rec­laim and remem­ber. Das Erin­nern selbst erkämp­fen.

INTERVIEW: MAIKE ZIMMERMANN

erschie­nen in: ak – ana­lyse & kri­tik – zci­tung für linke Debatte und Pra­xis / Nr. 632 / 14.11.2017

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